Die Sonne strahlt vom Himmel. 25 Grad mitten im April, ist das noch normal? Ich sitze im Garten, auf dem Tisch steht eine Tasse mit frischem, heißen Kaffee. Direkt daneben ein Teller mit zwei Stücken Schokolade. Ich liebe Schokolade. Normalerweise kann ich auch zwei Tafeln in kürzester Zeit „vernichten“. Doch es sind zwei kleine Stücke, kaum der Rede wert. Langsam führe ich das erste davon zu meinem Mund, in dem mir schon das Wasser zusammenläuft. Zaghaft beiße ich ein Stück ab und lasse es andächtig über meine Zunge gleiten. Ich genieße es – als sei es das letzte Stück auf der ganzen Welt – das Ritual der heiligen Schokolade. Dieses kleine Stück der braunen Leckerei macht mich stolz. Es erinnert mich daran, was ich in den letzten Tagen getan habe. Wie viel Kraft es mich gekostet hat, wie viele tapfere Mitstreiter ich hatte, wie viel Mut es macht zu wissen, dass es auch noch andere Menschen gibt, die einer Welt voll von Konsum und Verschwendung etwas entgegenzusetzen haben und wie aus einer scheinbar belanglosen Idee eine Bewegung werden kann, die beweist, dass man gemeinsam etwas bewegen kann. Schokolade von den Chocolate Makers: Lautlos, fair und emissionsfrei. Oder einfach in einem Wort: Schokofahrt.
Dezentrales Gemeinschaftswerk: Jeder trägt seinen Teil zur Schokofahrt bei. Dazu gehört zum Beispiel auch ein einwandfreies Lastenrad und – im besten Fall – noch eine coole Werbetafel, wie diese hier. Schließlich darf die Welt ruhig mitbekommen, was hier vor sich geht!
Abfahrt in Münster
Vier Tage vorher. Es ist ein ganz normaler Donnerstagmorgen in Münster. Ein ganz normaler? Es ist Gründonnerstag – noch ist die Stadt getüncht ins zarte Licht der Dämmerung. Hinter den Dächern steigt die Sonne unaufhaltsam empor, bis sie plötzlich einen ersten gleißenden Strahl direkt auf den fast menschenleeren Schlossplatz von Münster wirft. Etwas verloren stehe ich mitten darauf. Ein kleiner Mensch mit seinem Lastenrad, vor der beeindruckenden Kulisse des barocken Residenzschlosses, in dem sich heute die Universität befindet. Die rote Backsteinfassade erstrahlt schon im grellen Sonnenlicht, während der Park davor noch im kühlen Schatten liegt. Es sind Osterferien – auf Studenten kann man hier heute lange warten. Was also mache ihr hier, an diesem scheinbar ganz normalen Tag?
Startschuss: Die erste Challenge der Schokofahrt: Jedes Lastenrad sicher geparkt, alle FahrerInnen fein in eine Reihe und Hände hoch! Das Münsteraner Schloss ist in jedem Fall eine würdige Kulisse für das Start-Ritual.
Ganz am anderen Ende des Schlossplatzes regt sich etwas. Es bewegt sich auf mich zu und wird als Fahrrad erkennbar. Eines mit großen Taschen links und rechts, ausgerüstet für eine mehrtägige Radtour. Meine erste Schokofahrt Bekanntschaft. Noch gänzlich unbekannt und doch mit einem gemeinsamen Ziel: die. Chocolate Makers in Amsterdam. Ein kurzes Kennenlernen, voll freudiger Erwartung, da bewegt sich schon der nächste Punkt auf uns zu. Er teilt sich auf in zwei Punkte und als sie näher kommen, werden daraus ein Liegerad und ein Fahrrad mit stattlichem Anhänger. Der Schlossplatz füllt sich langsam und aus einem einzelnen Radfahrer wird eine beachtliche Gruppe von Radlern, die offenbar vorhaben, größere Lasten zu transportieren. Ein Cargobike nach dem anderen wird auf dem Schlossplatz geparkt, Räder mit Reisetaschen oder sogar mit Anhängern. Weniger homogen stellt sich die Menge ihrer Fahrer dar: Ob Frauen oder Männer, alt oder jung, mit Plüschtieren am Lenker oder kleinen Lautsprechern im Flaschenhalter, im sportlichen Radlerdress, mit sicherheitsbewusster Warnweste oder im stylischen, orange-blauen Jogging-Zweiteiler, der auch am Strand von Mallorca eine gute Figur gemacht hätte – diese Gruppe ist bunt gemischt und richtig gut drauf, worauf die ausgelassene Geräuschkulisse eindrucksvoll hindeutet. Ein Gruppenfoto, gar nicht so einfach und dann der gemeinsame Aufbruch, beinahe pünktlich. Gut zwei Dutzend Radfahrer mit ihren treuen Gefährten setzen sich in Bewegung und erwecken den vorhin noch verschlafenen Schlosspark endgültig zum Leben. „Die Autos steh‘n im Stau, ich fahr vorbei – Alle Ampeln grün, die Bahn ist frei – Wenn ich mit meinem Fahrrad fahr – Mitten durch die Stadt“ schallt der Gute-Laune-Soundtrack aus dem Lautsprecher vom Fahrer neben mir. Ja, nichts ist so schön wie Fahrrad fahr’n!
Die Autos steh‘n im Stau ich fahr vorbei – Alle Ampeln grün, die Bahn ist frei – Wenn ich mit meinem Fahrrad fahr – Mitten durch die Stadt“ schallt der Gute-Laune-Soundtrack aus dem Lautsprecher vom Fahrer.
Mittlerweile ist es richtig warm. Die Gruppe hat die Kreuzungen, Ampeln und den ganzen Stress, den es auch in der vermeintlich perfekten Fahrradstadt gibt, hinter sich gelassen. Auf ruhigen Landstraßen gleitet die Masse der Radler vor sich hin, wie ein großes Ganzes und doch ist Bewegung mittendrin. Mal überholt mich ein Cargobike von hinten, mal ziehe ich an einem vorbei. Mal wirft man sich ein schüchternes „Hallo“ zu, mal bleibt man auf gleicher Höhe und es entwickelt sich ein Gespräch. Themen gibt es genügend. Woher kommst du? Ist das deine erste Schokofahrt? Wieso bist du überhaupt dabei? Und was hast du denn da für ein Lastenrad?
Genuss für alle: Dass erwachsene Männer auch nochmal Kind sein mögen, kann man auf vielen Radtouren beobachten. Auch die Schokofahrt wurde wieder von einigen kuschligen Freunden begleitet, die sich direkt am Start in Münster kennenlernen durften.
Fuck Feinstaub: Damit haben Radfahrer nichts am Hut. Der „Stinkefinger“ ist hier also durchaus berechtigt.
Begegnungen auf dem Rad
Laura ist auf einem „Radlader“ von Cargobike Monkeys unterwegs. Sie ist aus Münster und von Anfang an dabei. Wie wir so plaudern, stellt sich heraus, dass sie – genau genommen – nicht nur von Anfang an dabei ist, sondern dass die Schokofahrt ohne sie wohl in dieser Art nicht existieren würde. Es begann alles mit dem Artikel eines Magazins, den Laura vor ein paar Jahren las. „Darin schilderte Eric Poscher, wie er mit dem Lastenrad nach Den Helder fuhr, um ein Segelschiff zu besuchen, das nur mit der Kraft des Windes Kakaobohnen aus der Karibik nach Europa bringt. In Amsterdam wird dieser Kakao dann von einer Schokoladenmanufaktur namens Chocolate Makers weiterverarbeitet und als emissionsfreie, faire Schokolade verkauft. Eric transportierte diese Schokolade per Lastenrad bis nach Leipzig und sorgte dafür, dass auch die letzte Meile emissionsfrei vonstattengehen konnte“. Eine tolle Idee, die Laura begeisterte. Und eine Idee, die perfekt zu ihrem damaligen Projekt passte. Während dieser Zeit arbeitete sie nämlich für den ASTA der Uni Münster an einem Konsumratgeber, in dem sie Alternativen zum herkömmlichen Massenkonsum aufzeigte. Ihr Vorschlag an die Studierenden damals war eine Art „Urlaub mit Sinn“. Sich aufs Rad setzen, Amsterdam ansteuern und Schokolade von den Chocolate Makers emissionsfrei per Lastenrad nach Deutschland fahren. Sie zeigte den Artikel ihrem Freund Nikolai zum Korrekturlesen und der war begeistert. „Warum machen wir das nicht einfach selber?“ Die Urlaubsplanung brachte mit sich, dass die beiden erstmal passende Cargobikes besorgen mussten, weshalb sie den Münsteraner Lastenrad Shop Traix ansteuerten. Händler Rainer war Feuer und Flamme für die Idee, organisierte nicht nur ein Lastenrad, sondern machte kurzerhand mit. Jens gesellte sich dazu und so stand die vierköpfige „Crew“ der ersten Schokofahrt fest.
Lautlose Karawane: Langsam, aber sicher rollt die Münster-Crew vor sich hin. Die Wiesen und Felder des Münsterlands liefern eine schöne Kulisse.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Laura noch nie so lange am Stück Fahrrad gefahren. Da es ein Kurzurlaub sein sollte und es bis nach Amsterdam eben nicht kurz ist, würde es aber notwendig sein, rund 120 Kilometer am Tag zu radeln. Also trainierte sie. „Anfangs war ich nach 60 Kilometern schon platt. Aber irgendwann merkte ich: 120 Kilometer am Tag mit dem Cargobike sind eine Herausforderung, aber nicht mehr unrealistisch“.
Es entstehen Verbindungen zwischen Menschen, die dasselbe wollen. Viele von ihnen fahren zum ersten Mal in ihrem Leben eine solche Distanz mit dem Fahrrad. Sie strengen sich richtig an, aber sie haben totalen Spaß dabei!
Zwei Jahre später geht die Schokofahrt an diesem Wochenende in die fünfte Runde. Längst ist aus dem privaten Miniurlaub eine kleine Bewegung geworden. Allein aus Münster starten an diesem Wochenende rund 24 Radfahrer, um in Amsterdam Schokolade von den Chocolate Makers abzuholen. „Wenn ich das heute sehe, wird mir erstmal klar, was das Ganze für eine transformative Kraft hat“ – Laura strahlt übers ganze Gesicht, als ich sie frage, wie es sich anfühlt, heute in einer so großen Gruppe zu fahren. „Es ist fantastisch zu sehen, wie die Schokofahrt Menschen inspiriert, selber etwas zu transportieren und ‚gute‘ Schokolade zu konsumieren. Es entstehen Verbindungen zwischen Menschen, die dasselbe wollen. Viele von ihnen fahren zum ersten Mal in ihrem Leben eine solche Distanz mit dem Fahrrad. Sie strengen sich richtig an, aber sie haben totalen Spaß dabei.“
Gemeinsam nach Amsterdam, gemeinsam durchs Leben: Laura und Nikolai sind nicht nur ein Paar, sondern auch zwei der Schokofahrt Pioniere: Von Anfang an sind sie dabei und auch auf der fünften Schokofahrt voller Begeisterung und mit vielen Ideen für die Zukunft..
Es macht Spaß, sich mit Laura zu unterhalten. Sie ist keine dieser Trend-Ökos, die zum teuren Bioladen fahren, weil es gerade hip ist und das Gewissen beruhigt. Laura hinterfragt einfach vieles. Und die Schokofahrt hat weiteres Hinterfragen herbeigeführt: „Plötzlich fragte ich mich: Was esse ich da eigentlich für Süßigkeiten? Süßigkeiten werden einem so leicht angeboten und stehen überall rum, zum Beispiel im Büro auf dem Schreibtisch. Es ist so einfach, zuzugreifen. Aber ich habe einfach beschlossen, dass ich so wenig wie möglich dazu beitragen möchte, dass zum Beispiel Kinder für meinen Genuss auf Plantagen arbeiten müssen. Oder das Menschen für mich Stoffe färben müssen und dabei keine Schutzkleidung tragen und dabei noch Gewässer verseucht werden. Ich möchte einfach versuchen, so wenig wie möglich negativen Einfluss zu haben, sondern im Gegenteil lieber einen positiven Einfluss auszuüben. Und ich glaube, das kann man in vielen Bereichen auch hinbekommen. Für viele mag es seltsam klingen, wenn sie zum Beispiel hören, dass wir nicht in den Urlaub fliegen. Aber ganz ehrlich: Es fehlt mir einfach an nichts. Stattdessen sparen wir irre viel Geld. Mit der Schokofahrt können wir das zeigen: Wir führen ein total entspanntes, ruhiges Leben. Wir stehen niemals stundenlang im Stau, wir sind ausgeglichen und weit weg vom Burnout. Die Schokofahrt macht das so anschaulich – so kann ich zumindest in meinem nahen Umfeld viele Leute erreichen.“
Tanken mit Biotreibstoff: Ganz ohne Energie kommt auch der Radler nicht voran. Statt Diesel wird Gebäck getankt – garan-tiert Feinstaubfrei!
Big Brother is watching you: Timo hat seine Drohne dabei – in der Pause macht es nicht nur ihm Spaß, die Schokofahrt aus einer anderen Perspektive anzusehen.
Rund 50 Kilometer sind geschafft. Ein erster Sturz ging glimpflich aus, eine erste Pause steht an, ein erster Snack wird genossen. Viele haben sich zu Hause selbst die Schnitte Brot geschmiert oder kleine Energieriegel gebacken. Kein Knistern von Folien, sondern das Aufschnappen von Tupperdosen – die dezente Geräuschkulisse der ersten Schokofahrt-Pause des Wochenendes. Nebenan auf dem Reiterhof ist ein Pferd ausgebüchst – gut, dass genügend Radler es kurzerhand zurückjagen können. Schnell noch ein paar Erinnerungsfotos von den mitgereisten Kuscheltieren, dann geht es auch schon weiter. Die Sonne strahlt, es ist ungewöhnlich warm für Mitte April – doch heute wird sich niemand darüber beklagen.
Zu meinem gelben Bullitt Lastenrad gesellt sich ein interessant aussehendes Lastenrad in roher Aluoptik. Es hat deutliche Ähnlichkeit zum Radlader von Laura und ist doch irgendwie anders. Der langhaarige Fahrer überspielt lässig jede Anstrengung, lässt dennoch keine Gelegenheit aus zu erwähnen, dass er zurzeit nicht wirklich fit ist. Immerhin: Sein Bike läuft einwandfrei. Was – wie ich im Folgenden erfahre – keineswegs selbstverständlich ist, denn es wurde erst kurz vor der Abfahrt zur Schokofahrt „zusammengebrutzelt“.
Meister Radlader: Rainer betreibt in Münster seinen Lastenradladen „Traix“, ist der Kopf hinter dem „Radlader“ von Cargobike Monkeys und einer der Münsteraner Schokofahrt-Pioniere.
Wie es der Zufall will, radel ich gerade neben jenem Rainer, der mir schon öfter von dem ein oder anderen Schokofahrer als „Schlüsselfigur“ der Bewegung beschrieben wurde. Immerhin ist er von Beginn an dabei. Seine erste Teilnahme hatte sich „irgendwie einfach so ergeben“ – wie, hatte mir ja bereits Laura geschildert. Rainer hat nicht nur seinen Lastenrad Laden, sondern ist auch von Anfang an im Projekt „Freies Lastenrad Münster“ engagiert. „Lasse – dein Lastenrad für Münster“ wurde also zu „Lasse – Lauras Lastenrad für Amsterdam“. Von der Schokofahrt Idee war Rainer sowieso total begeistert: „Endlich mal wieder eine Gelegenheit mehr Rad zu fahren. Der ganze Hintergrund ist natürlich mega, emissionsfreier Transport, die Schokolade und so weiter. Das ergab alles Sinn für mich und es war klar, dass ich mit dabei bin“.
Der Stoff, aus dem Schokoträume sind: Oder zumindest der Schokotransport: Bananen sind ein wesentlicher Bestandteil des Antriebskonzepts der Schokofahrt, bestehend aus Lastenrad und Muskelkraft.
Radtour mit Sinn: Mit dem Fahrrad kann man vortrefflich einfach durch die Gegend fahren, vor allem, wenn die Radwege so eben und gepflegt sind, wie dieser hier. Mit dem Hintergrund der Schokofahrt be-kommt diese Tour aber einen ganz besonderen Sinn, was dieser Fahrt etwas Magisches verleiht.
Es ist keine verbissene, aufgesetzte Sache. Es ist nicht‚ du darfst das und das nicht machen‘, sondern ein Gemeinschaftserlebnis, das riesen Bock macht. Und genau das verändert Leute.
Dennoch sieht er sich nicht als Schlüsselfigur: „Ich war irgendwie einfach dabei, an der richtigen Stelle. Der Laden ist natürlich schon so eine Art Anlaufstelle, wo sich viele verschiedene Leute treffen. Projekte wie das freie Lastenrad, Fahrradstadt Münster, oder der ADFC Münster – im Laden trifft man sich, spinnt herum, plant und macht. Ich muss dazu eigentlich nicht viel tun… trotzdem habe ich scheinbar den Ruf, eine Schlüsselperson zu sein.“ In diesem Jahr hat Rainer die privaten Schokobestellungen der Münster-Crew organisiert. „Irgendwie hängt man doch immer mit drin. Auf jeden Fall ist es geil, von Anfang an dabei gewesen zu sein. Diese Entwicklung ist einfach der Hammer. Beim ersten Mal waren zwei Lastenräder mit dabei und normale Trekkingräder und jetzt – wow! Ich finde das natürlich toll, dass die Schokofahrt so groß geworden ist und sich auf ganz Deutschland ausgebreitet hat. Ich finde es aber auch extrem spannend, zu beobachten, welchen Effekt die Schokofahrt auf den einzelnen Menschen hat: Menschen verändern sich positiv durch die Schokofahrt. Bei vielen glaube ich das zu beobachten und bei mir selber auch. Ich bin durch die Fahrt wieder mehr aufs Rad gekommen. Vor allem aber denkst du über das Ganze nach. Die ganzen Zusammenhänge vom Transport bis zur fertigen Schokolade. Das verändert einen. Es ist keine verbissene, aufgesetzte Sache. Es ist nicht ‚du darfst das und das nicht machen‘, sondern ein Gemeinschaftserlebnis, das riesen Bock macht. Und genau das verändert Leute.“
Mittagspause: Vor der Kirche von Haaksbergen lässt sich die Schokocrew zur ersten längeren Pause des Tages nieder. Die Sonne strahlt, die Tupperdosen schnacken auf und nebenan lädt das Café zum frischen Heißgetränk.
Und was ist nun die Geschichte vom Lastenrad, das erst in der Nacht zuvor fertig wurde? Es ist noch völlig unlackiert. Kein Wunder: Rainer kam erst in der Nacht vor der Schokofahrt zurück aus Pforzheim, wo sein neuer Schweißer den Prototyp des „Radladers“ fertiggestellt hat. „An dem Bike ist alles so, wie ich das gut finde. Ich bin zwar in dem Sinne kein Entwickler, aber ich gebe halt meinen Senf dazu. Alex von Portus Cycles aus Pforzheim hat alles fachmännisch umgesetzt und bis jetzt bin ich sehr zufrieden mit dem Ergebnis.“ Das neue Rad kann man bald in Rainers Laden und bei ausgewählten Händlern kaufen. Schokofahrt-approved, sozusagen, vom Chef persönlich.
Langsam aber sicher geht es voran. Die Schokoradler erreichen die deutsch-holländische Grenze, was für heute in etwa die Halbzeit markiert. Die Strecke ist angenehm flach, die Radwege werden immer besser und es herrscht astreiner Rückenwind, der jedem Einzelnen sprichwörtlich Flügel verleiht: So schnell war die Münster Crew noch nie unterwegs! Es passt einfach alles. Im letzten Jahr war es kalt, Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Es regnete und der Wind blies den Fahrern die ganze Zeit direkt ins Gesicht. In diesem Jahr ist der Wettergott der beste Freund des emissionsfreien Schokotransports.
Pfadfinder im Schokorausch: Im gemütlichen Pfadfinderheim am Stadtrand von Deventer kommt sofort gesellige Jugendcamp-Atmosphäre auf.
Ein Hauch von Klassenfahrt
Pause in Haaksbergen. Die Tupperdosen schnacken wieder auf, dazu gesellt sich das Geräusch der Sonnencreme-Döschen, die massenhaft zum Einsatz kommen. Eine Stunde Mittagspause, das tut gut. Das Tagesziel scheint nun für alle erreichbar und so macht sich der Tross gut gelaunt wieder auf in Richtung Deventer. Dort befindet sich das heutige Etappenziel. Nikolai hatte hier vorab das Hauptquartier der örtlichen Pfadfinder angemietet. Eine Küche, ein Essensraum, ein Schlafgemach, Duschen, Toiletten und 24 Radler, die sich mit Schlafsack und Isomatte aufgeregt auf die Suche nach dem besten Schlafplatz machen. Es hat etwas von Klassenfahrt, es ist wie eine kleine Zeitreise und spätestens, als die Aufgaben verteilt werden, ist die Jugendcamp-Atmosphäre perfekt. Eine Gruppe kauft ein, eine kocht und es gibt sogar einen Bierbeauftragten: Christof nimmt seine Aufgabe sehr ernst und testet vor dem großen Einkauf gewissenhaft die Probe des Gerstensafts, die er vorhin schnell im örtlichen Supermarkt erstanden hatte.
Christof verkörpert die Normalität dessen, was wir hier tun. Keiner muss sich verbiegen, keiner zwingt sich zu irgendetwas und trotzdem kommt am Ende etwas
total Positives dabei heraus.
Die Küchencrew zaubert ein leckeres Abendessen auf den Tisch. Hergestellt aus frischen Zutaten, gesund, schmackhaft und gar nicht teuer. Christofs Einkauf findet ebenfalls allgemeinen Anklang, so dass sich schnell eine ausgelassene Stimmung entwickelt. Nach all der Anstrengung, all den Gesprächen über Transport, Verkehr und Nachhaltigkeit fühlt sich das hier gerade extrem normal an. Hier sitzen keine verschrobenen Ökoheinis, sondern interessante, witzige Charaktere, die vor allem eines haben, bei dem, was sie tun: verdammt viel Spaß.
Genauso normal, fast schon nebensächlich, begann Christofs „Lastenrad-Karriere“: Christof wohnt und arbeitet in der Fahrradstadt und besitzt seit fünf Jahren schon kein Auto mehr. Kein großes Ding – völlig beiläufig erzählt er, wie sein Auto sich quasi selbst abgeschafft hat: „Es stand nur noch herum, alle zwei Jahre bin ich damit zum Tüv gefahren, das war’s“. Stattdessen radelte Christof durch die Stadt und wenn mal etwas transportiert werden musste (zum Beispiel sein Grill-Equippment zum Kanal), half er sich mit einem Anhänger aus. Über „Lasse“, das freie Lastenrad in Münster, wurde er auf Cargobikes aufmerksam und wagte sogar eine Probefahrt. Doch der Schritt zum eigenen Lastenrad blieb erstmal aus. Bis zu diesem Tag: Christof radelte, wie so oft, über die Münsteraner Promenade, als er überholt wurde. Von einem Mann auf einem Bullitt-Lastenrad. An der näch-sten Ampel stellte er fest, dass der noch nichtmal einen Elektromotor hatte und die beiden kamen ins Gespräch. Er fragt den Besitzer des Bullitts, woher er sein Gefährt hat und wurde auf den Radladen Traix verwiesen. Der Rest ist Geschichte: „Ich ging als Kunde in Rainers Laden hinein und kam als Freund wieder heraus“. Im Laden traf er auch noch den jungen Mann mit dem Bullitt wieder. „Der arbeitete dort als Verkäufer, das hatte er mir gar nicht erzählt“, Christoph lacht – kleine Fahrradwelt Münster.
Lastenradler aus Leidenschaft: Christof ist das perfekte Beispiel dafür, dass es kein Zwang und keine Strafe ist, aufs Fahrrad umzusteigen: Sein Auto stand nur noch herum und kostete Geld. Es hat sich sozusagen selbst abgeschafft und Platz für Christofs neue Leidenschaft gemacht: sein himmelblaues Bullitt!
Simple life: Eine Bank, ein paar Bäume, ein Sonnenuntergang und eine einfache Holzhütte. Dazu ein leckeres Kaltgetränk und fertig ist die perfekte Abendstimmung, die fast nichts gekostet hat.
Rudelschlafen: Gemütlich geht auch ohne großartigen Komfort. Ein Hauch von Dschungelcamp-Feeling gibt’s gratis dazu.
Mittlerweile hat Christof zwei Bullitts. Eines mit „E“ wurde noch angeschafft und es macht irgendwie den Anschein, dass ihn weniger die dringende Notwendigkeit, als schlichtweg die Begeisterung für diese neue Art der Mobilität zu dieser Anschaffung bewegte: „Mittlerweile hänge ich sogar in meiner Freizeit im Laden rum und halte Rainer von der Arbeit ab. Der Laden ist definitiv ein fester Mittelpunkt was die Lastenrad Szene in Münster angeht.“ Und Christof ist ein Teil davon. Für mich ein ganz wichtiger: Denn er verkörpert die Normalität dessen, was wir hier tun. Keiner muss sich verbiegen, keiner zwingt sich zu irgendetwas und trotzdem kommt am Ende etwas total Positives dabei heraus.
Golden Hour: Wenn die Schatten noch lang sind und das Licht noch sanft ist, ist jede Radtour von einer ganz besonderen Stimmung begleitet. Früh aufstehen lohnt sich!
Der nächste Tag beginnt recht entspannt mit einem ganz hervorragenden Frühstück. Frischer Obstsalat, heißer Kaffee, leckeres Brot und eine verführerische Käseplatte – die Küchencrew hat sich richtig Mühe gegeben. Keiner hat es am Abend zuvor übertrieben, so dass alle fit sind und nach dem Frühstück zu einer kleinen Warmup-Session vor dem Pfadfinderheim antreten, die Sportwissenschaftler Simon fachhkundig anleitet. Endlich geht es weiter. Man kann spüren, dass alle endlich in Amsterdam ankommen möchten.
Die Schokofahrt ist ein sehr interessantes Konstrukt. Sie ist keine durchgestylte Pauschalreise, sondern ein Gemeinschaftswerk, an dem jeder irgendwie seinen Anteil hat. Einige kümmern sich um das Routing, einige um die Küche und wieder andere filmen unterwegs für einen Schokofahrt-Film, der später veröffentlicht werden soll. Die Schokoladenbestellungen müssen organisiert werden, jemand muss sich ums „Netzwerken“ kümmern oder die Unterkünfte buchen. Und selbst wer keinen konkreten „Job“ hat, ist Teil des großen Ganzen und mit verantwortlich dafür, dass alles klappt. Verantwortlich zum Beispiel dafür, dass das eigene Rad einwandfrei funktioniert und dass man zumindest so fit ist, dass die große Distanz realistisch ist. Jeder übernimmt eine Aufgabe und das ganz offensichtlich mit großer Freude.
Stolz ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Schokofahrt. Jeder ist am Ende stolz und jeder kann es auch sein! Dabei ist das ein Stolz, den ich sehr schön finde, denn er ist nicht kompetitiv, sondern kooperativ. Es ist ein Gemeinschaftsstolz. Ich habe niemanden bezwungen, außer mich selbst. Das ist geil.
Nikolai ist diese Freude besonders anzusehen. Er ist Lauras Freund und einer derjenigen, die von Anfang an dabei sind. Allein deshalb ist die Schokofahrt für ihn etwas ganz Besonderes – er strahlt sichtlich beim Anblick der vielen Radfahrer, die heute dabei sind: „Ich freue mich über so viele Menschen, die das auch interessiert. Es macht mich stolz, dass wir das geschafft haben. Es war mein Ziel, so ein großes Netzwerk aufzubauen. Und ehrlich gesagt sehe ich da noch kein Ende. Ich denke, das Ganze kann noch viel, viel größer werden.“ Sich mit Nikolai zu unterhalten, stellt sich als wirklich interessant heraus. Nicht nur, weil er einer der Schokofahrt-Pioniere ist, sondern weil er mir einen spannenden, ganz anderen Blickwinkel eröffnet. Nikolai ist Psychologe und so liegt es in der Natur der Sache, dass er die Dynamik der Schokofahrt hinterfragt und zu erklären versucht.
Flottmacher: Die morgendliche Kaffee-Session ist der erste Schritt des Schokofahrt-Wakeup-Rituals.
Chocolate-Gym: Bevor es losgeht bringt Sportwissenschaftler Simon im zweiten Schritt Schwung in die müden Radlerwaden! Nach diesem Warmup-Programm kann es weitergehen.
Vielleicht ist das gar nicht immer nötig, dennoch eröffnet mir das Gespräch mit Nikolai eine spannende Sicht auf unser Treiben. Vor allem aber ist Nikolai, trotz aller sachlicher Analyse, mit Begeisterung dabei und sichtlich stolz darauf, was aus einer vierköpfigen Gruppe auf Kurzurlaub mit dem Rad geworden ist. Doch nicht nur er ist stolz: „Stolz ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Schokofahrt. Jeder ist am Ende stolz und jeder kann es auch sein! Dabei ist das ein Stolz, den ich sehr schön finde, denn er ist nicht kompetitiv, sondern kooperativ. Es ist ein Gemeinschaftsstolz. Ich habe niemanden bezwungen, außer mich selbst. Das ist geil. Das finden auch Menschen gut, die sonst niemals auf die Idee kommen würden, auf tagelange Hardcore-Touren zu gehen. Bei der Schokofahrt wachsen alle über sich hinaus und schaffen weit mehr, als sie sich zugetraut hätten.“
Prima Klima? Auch wenn sich an diesem Wochenende niemand über das Wetter beschwert: Unterwegs wird der Klimawandel greifbar. In der steppenartigen Landschaft eines ehemaligen niederländischen Truppenübungsplatzes sorgen die hohen Temperaturen im April, verdörrte Pflanzen und staubtrockene Sandwege für eine surreale Stimmung.
Der Grund für diesen Stolz ist so simpel, wie genial und er heißt Schokolade. „Dass wir uns mit Schokolade beschäftigen, macht es so einfach, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Es bleibt total konkret. Schokolade ist etwas, das fast alle mögen. Schokolade ist Genuss und bedeutet jedem irgendwie etwas. Durch diese Fahrt bekommt Schokolade aber einen ganz neuen Wert: Man kann sie viel mehr genießen und wertschätzen. Das merke ich immer wieder dabei.“ Es ist faszinierend zu erfahren, was so etwas Einfaches auslösen kann. Nikolai holt ein bisschen weiter aus: „Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Selbstwirksamkeit. Das bedeutet: Wer an der Schokofahrt teilnimmt, hat das Gefühl, selber etwas bewirken und bewegen zu können. Es liegt in der Hand eines jeden Einzelnen. Bei der Schokofahrt gibt es dazu ganz viele Ansätze: Jeder kann mit dem Fahrrad eine Strecke zurücklegen. Das ist etwas, was viele zum ersten Mal in dieser Form erleben. Es ist eine kollektive Wirksamkeit: Wir können das gemeinsam schaffen. Dadurch entsteht ein Verbindungsgefühl. Dazu kommt der Nachhaltigkeitsaspekt in vielerlei Hinsicht. Es hat etwas mit Ernährung zu tun, mit Mobilität, Konsum, Reisen. Wesentliche Aspekte von Nachhaltigkeit, mit denen wir in unserem Alltag zu tun haben und wo wir Einfluss drauf haben. Dieser Einfluss wirkt aber häufig sehr diffus, so als ob es schwer wäre, etwas besser zu machen. Bei der Schokofahrt hingegen erlebt jeder diesen Einfluss unmittelbar. Viele essen eben gerne Schokolade. Die kommt von weit her und wird vielleicht unter fragwürdigen Bedindungen erzeugt. Es ist ein Genussmittel, ohne das wir alle auch leben könnten. Viele wollen aber nicht drauf verzichten. Die Schokofahrt zeigt: Ich kann mich tatsächlich selber damit versorgen und auch noch viele Menschen um mich herum. Dafür muss ich nichts Besonderes können, ich schaffe das einfach.“
Tierisch gut: Diesem Schaf sind Radfahrer wohl ebenso egal wie Schokolade. Den Radlern der Schokofahrt hingegen hat das kleine Tier viel Freude bereitet.
Weiter und länger: Kurz vorm Ziel ist kaum noch auszumachen, welcher Schokofahrt-Crew die einzelnen Radler angehören. Mittlerweile haben viele Gruppen aus den unterschiedlichen Städten zusammengefunden und bilden eine lange Transport-Karawane.
So komplex die Erklärung des Psychologen klingen mag, so einfach kann man die Effekte dieser Fahrt auf jeden einzelnen beobachten. Vor allem die Begeisterung, die sie auslöst, ist allgegenwärtig. Allein die Inspiration, die von ihr ausgeht, ist beeindruckend. Nikolai selbst inspiriert jede einzelne Schokofahrt aufs Neue: „Vielleicht bringen wir ja demnächst auch mal Biozucker aus Deutschland nach Amsterdam, damit auch dieser Produk-tionsschritt der Schokolade emissionsfrei wird und wir auch die Hinfahrt zum Transport nutzen. Das ist das Tolle an dieser Fahrt: Die Schokofahrt ist das Konkrete auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist das, was in den Köpfen und Herzen der Menschen entsteht, an Inspiration, an Ideen, an Motivation.“
Die Schokofahrt ist das Konkrete auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist das, was in den Köpfen und Herzen der Menschen entsteht, an Inspiration, an Ideen, an Motivation.
Die Münster-Crew erreicht Amersfoort. Die letzte große Pause vor Amsterdam. Die Sonne knallt vom Himmel und alle versorgen sich mit Wasser, Fritjes oder Eis. Entspannte Pausenstimmung erfüllt den Platz, der mit all den Lastenrädern ganz schön voll ist. Plötzlich ertönen allerlei Fahrradklingeln, es wird applaudiert und angefeuert. Die Crew aus dem Ruhrpott biegt auf den großen Platz der Einkaufsstraße ein und gesellt sich zur Abteilung Münster. Alle begrüßen sich herzlich, viele kennen sich noch aus dem letzten Jahr. Die großen und kleinen Erlebnisse der Fahrt bis hierher werden in aller Kürze ausgetauscht und die Vorfreude auf Amsterdam steigt ins Unermessliche. Schon jetzt ist die pure Menge der Cargobikes beeindruckend – Morgen beim großen Treffen auf dem Hof der Chocolatemakers sollen es noch viel mehr werden.
Schokofahrt auf Wachstumskurs: Gegen Ende der Hinfahrt wird es nochmal greifbar, wie aus vielen kleinen Teilen ein großes Ganzes wird. Nach und nach trudeln zur Pause in Amersfoord die Crews aus verschiedenen Städten ein und bilden gemeinsam eine beeindruckende Formation fürs Gruppenfoto.
Das Gruppenfoto in Münster war schon ganz beeindruckend, das in Amersfoort ist es umso mehr. Und das ist lange nicht alles. Schokoradler aus Nürnberg, Oldenburg, Hamburg, Flensburg und vielen weiteren Städten sind zeitgleich unterwegs, um alle morgen früh um 10 Uhr das zuckersüße Transportgut aufzuladen und lautlos in die Heimat zu befördern. Langsam wird das Ziel greifbar. Vorbei an malerischen Grachten in den kleinen Ortschaften und über astreine Fahrradwege geht es weiter, dann ist es geschafft: Die Überquerung der Nescio-Brücke rüber nach Amsterdam gleicht einem symbolischen Akt. Sie ist die erste Hängebrücke der Niederlande, die nur Rad- und Fußwege trägt und – wie die Schokofahrt – ein Sinnbild dafür, dass es auch anders geht.
Plötzlich ertönen allerlei Fahrradklingeln, es wird applaudiert und angefeuert. Die Crew aus dem Ruhrpott biegt auf den großen Platz der Einkaufsstraße ein und gesellt sich zur Abteilung Münster.
Hallo Amsterdam, Hallo Schokolade!
Das Abendessen wird heute nicht selbst zubereitet. Stattdessen füllt die Münster Crew das „Instock“, ein Restaurant mitten in Amsterdam, das unverkaufte Ware der größten holländischen Supermarktkette aufkauft und vor dem Müllcontainer „rettet“. Ein charmantes Konzept ganz im Sinne der Schokofahrt, das leider dennoch nicht dem Gusto einer Gruppe von Radlern gerecht wird, die den ganzen Tag im Sattel saßen und einen Bärenhunger mitbringen: Es dauert unglaublich lange, bis das Essen auf dem Tisch steht, das zwar köstlich ist, dessen homöopathische Darreichungsform jedoch enttäuscht. Manchmal bedeutet ein nachhaltiger Lebensstil eben doch Opfer zu bringen.
Kulinarische Landeskunde: Frische Frietjes – die gehören zu einem Holland-Urlaub doch wohl irgendwie dazu, oder nicht?
Stimmung: hervorragend. Kleiner Schnappschuss, große Stimmung. Wo man auch hinsieht: Trübe Mienen sind auf der Schokofahrt Mangelware.
Voor de Echte Helden Onder uns! Das Motto des abendlichen Kartoffelbiers im „Instock“, einem Restaurant, das vom Supermarkt ausrangierte Ware vor dem Müll rettet, trifft es wie die Faust aufs Auge.
Der große Tag startet inmitten der Idylle des Sloterplas, einem kleinen See etwas außerhalb des Stadtzentrums: Das gemütliche Vereinsheim des dort ansässigen Kanuvereins stellt „traditionell“ die Amsterdam-Unterkunft der Münster-Crew. Die Sonne strahlt, die Wasservögel schnattern und die Wellen platschen, als sich ein Lastenradler nach dem anderen vor der Holzhütte versammelt, um endlich das Etappenziel der Reise anzusteuern: Die Fabrik der Chocolate Makers. Etwas abseits steht Hermann und telefoniert – er hat ein Interview mit einem holländischen Radiosender klargemacht. Ob das wirklich jemand hört?
Wir rollen los. Es ist Samstag und noch ist es ziemlich ruhig auf den Radwegen von Amsterdam. Knapp zehn Kilometer noch bis zum großen Aufladen. Inklusive einer Fahrt mit der Fähre, was in Amsterdam keine Seltenheit ist. Auf dem Schiff werden wir gemustert, bis uns schließlich eine Frau anspricht: „Seid ihr von der Schokofahrt“? Sie hat doch tatsächlich das Radiointerview von eben gehört! Besser kann doch der Tag nicht starten.
Brücke der Zukunft. Die Nescio-Brücke nach Amsterdam ist die erste ihrer Art in den Niederlanden: Sie wurde ausschließlich für Radfahrer und Fußgänger errichtet.
Der Hof der Chocolate Makers ist nicht besonders klein, doch heute platzt er aus allen Nähten. Nach und nach trudeln alle Cargobiker ein, es gibt Kaffee und Schokolade zum Probieren. Auch wenn es eigentlich nur darum geht, dass alle ihre Schokolade aufladen – dieses Treffen hat Eventcharakter und es ist der absolute Höhepunkt der Reise. Aus allen Teilen Deutschlands treffen hier die Radfahrer zusammen, auf diesen Moment haben alle hingefiebert, dieser Moment hat so viel Kraft gefordert. Und nun ist er da. Menschen liegen sich in den Armen, treffen sich wieder, lachen, tauschen sich aus. Auf diese Weise sind schon Freundschaften entstanden. So wie die von Simon und Jens.
Last, Leeze & Laktat. „Leeze“ ist der Münsteraner Begriff für Fahrrad. Und dem sind diese beiden hier ziemlich verfallen. Insbesondere dem Lasten-Leeze. Jens (li.) und Simon (re.) sind die Köpfe hinter den Cargobike Races, die sie mittlerweile über ganz Deutschland verteilt ausrichten.
Die Überquerung der Nescio-Brücke gleicht einem symbolischen Akt. Sie ist die erste Hängebrücke der Niederlande, die nur Rad- und Fußwege trägt und – wie die Schokofahrt – ein Sinnbild dafür, dass es auch anders geht.
Jens stammt aus Berlin und kam zum Studieren nach Münster. Am Anfang kannte er niemanden, eine fremde Stadt in einer fremden Gegend sollte sein Zuhause auf Zeit sein. Er begann, die Gegend mit dem Rennrad zu erkunden und landete irgendwie auf der Critical Mass von Münster. Dort traf er Nikolai und Rainer und lernte sie beim Bier danach näher kennen. Als er den Plan von der Schokofahrt aufschnappte, war er Feuer und Flamme – das Ende der Geschichte kenne ich schon: Jens war einer der vier Schokofahrt-Pioniere. Von da an war er angefixt und wurde Teil der kleinen Münsteraner Lastenradszene. Nun hatte er nicht nur ein neues Hobby, sondern auch einen neuen Freundeskreis.
Ankunftsfreude: Geschafft! Simon hat offensichtlich noch genug Power für eine kleine, akrobatische Übung auf seinem Lastenrad als Ausdruck seiner Freude.
Einer seiner neuen Freunde war Simon. Er fuhr schon immer Rad, denn „in Münster lernt man laufen, dann radfahren. Und dann fährt man jede Strecke, die länger ist als das Rad selbst“. In Wuppertal, wohin es Simon zum Studieren zog, ist das ganz anders. Dennoch fand er dort Kontakt zur Fahrradszene, als er auf das Projekt „Freies Lastenrad Wuppertal“ stieß. Schnell merkte er: „Wenn man so ein Rad zur Verfügung hat, nutzt man es auch. Irgendwann findet man immer mehr Gründe etwas zu transportieren und das freie Lastenrad reicht nicht mehr aus. Also kauft man sich ein eigenes“ – und engagiert sich gleich noch im freien Lastenrad Projekt. Zurück in der Heimat war die Konsequenz, dieses Engagement in Münster fortzuführen. So traf er Nikolai, Laura, Rainer und… Jens! Eine Verbindung mit nachhaltigen Folgen: Heute organisieren die beiden im ganzen Land ihre Cargo-Bike Rennserie – die es ohne die Schokofahrt so wohl nicht geben würde!
Beladung: Keine leicht logistische Aufgabe, die vielen Pakete auf das jeweils richtige Cargobike zu verladen.
Die Geschichte von Simon und Jens ist richtig cool, denn sie zeigt, was alles aus so einer einfachen Idee entstehen kann. Es scheint, als würde, wer einmal Blut (beziehungsweise Schokolade) geleckt hat, nicht genug bekommen. So wundert es mich kaum, als Jens mir die Pläne für seine Rückfahrt kundtut: Zusammen mit seinem Vater Thomas und Nikolai radelt er nicht zurück nach Münster, sondern gleich durch bis nach Berlin, wo er die Schokolade abliefert und danach weiter zur „Velo“ fährt, der Berliner Fahrradmesse, in deren Rahmen ein Cargobike Race stattfindet.
Es ist eine so unglaublich runde Geschichte. Die Schokofahrt hat so viel symbolische Kraft, aber auch ganz viel praktischen Nutzen. Sie beweist, wie ganz normale Menschen in der Lage sind, große Distanzen zu überwinden und beeindruckende Mengen von Schokolade zu transportieren. Auf der anderen Seite symbolisiert sie, wie viel einfacher es ist, die vielen kurzen Wege daheim mit dem Fahrrad zu bewältigen: Die Kinder mit dem Lastenrad zur Schule zu fahren oder den Einkauf zu erledigen erscheint angesichts dieser Geschichte wie ein Klacks.
XXL-Transport. Auf dem Hof der Chocolate Makers ist was los! Fast 140 Lastenradler holen fast zwei Tonnen Schokolade ab. Dank guter Vorbereitung und einem reibungslosen Procedere bleibt das Chaos aber aus.
Herzlich willkommen! Trotz kurzem „Hallo“ von Bezirksbürgermeisterin Saskia Groenewoud, ein paar schönen Worten von Chocolate Maker Enver Loke und Schokofahrt-Pionier Nikolai ist die Schokofahrt vor allem eines: Eine Kurierfahrt. Selber machen, statt nur zu reden, lautet das Motto und darum bleiben die Grußworte kurz und knapp. Jetzt wird aufgeladen!
Am Ziel einer Reise. Andreas Lackner, einer der „Tres Hombres“, begrüßt die 136 Schokoradler. Ein warmer Willkommensgruß mit viel Leidenschaft, Dankbarkeit und Hoffnung. An dieser Art von Genuss, die keinem schadet, die niemanden ausbeutet und die keine Ressourcen auf Pump nutzt, kann jeder teilhaben. Im Grunde ist sie „ganz normal“ – ein Zukunftsmodell, das schon heute funktioniert. Ohne lange Debatten, ohne große Investitionen, dafür mit ganz viel Freude und Spaß!
Ready to go! Nachdem die Ladung gesichert ist, ist Samuel bereit für den Rücktransport.
Die Schokofahrt steht für den bewussten Genuss. Wer dafür 500 Kilometer mit dem Fahrrad gefahren ist, hat das am eigenen Leib „erfahren“. Vor allem aber verbindet die Schokofahrt Menschen. Jeder einzelne ist ein kleines Zahnrad in einem großen Konstrukt von nachhaltiger Produktivität, aber auch von echter Freundschaft. Das hier in Amsterdam ist der Anfang. Der Anfang von einer langen Rückfahrt, auf die sich nun nach und nach die vollbeladenen Räder begeben. Und der Anfang einer Bewegung, die hier und jetzt schon beeindruckend ist, aber mit Sicherheit noch eine große Zukunft haben wird. Denn ob 30 Kilo auf dem Lastenrad oder eine Tafel in der Satteltasche: Jeder kann den Grundstein legen dafür, dass diese Bewegung weiterwächst und dass sich die Geschichte von guter Schokolade und emissionsfreiem Transport weiter verbreitet.
Die Schokofahrt hat so viel symbolische Kraft, aber auch ganz viel praktischen Nutzen. Sie beweist, wie ganz normale Menschen in der Lage sind, große Distanzen zu überwinden und beeindruckende Mengen von Schokolade zu transportieren. Auf der anderen Seite symbolisiert sie, wie viel einfacher es ist, die vielen kurzen Wege daheim mit dem Fahrrad zu bewältigen.
Schokofahrt FAQ
Allgemeine Infos zur Schokofahrt sowie die Antworten auf einige häufig gestellte Fragen findest du hier.
„Tres Hombres“ – Emissionsfreier Schiffstransport
Drei Männer, drei Freunde, „Tres Hombres“: Sie lernten sich beim Segeln kennen und entwarfen gemeinsam das Konzept eines emissionsfreien Frachtdienstes über See. Mit einem alten Segelschiff nahm ihre Vision Gestalt an. Nach einer aufwändigen Restauration stach 2010 die „Tres Hombres“ in See und transportiert seither mit der Kraft des Windes fair gehandelte Produkte aus der Karibik nach Europa. Ein tolles Projekt, an dem jeder auf seine Weise teilhaben kann. Alle Infos dazu findet ihr unter https://treshombres.eu.