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Eine Revolution in der Reifenherstellung?
Ein nachhaltiger Fahrradreifen? Um den zu produzieren, setzt reTyre auf eine Kombination innovativer Materialien. Die Lauffläche besteht aus Algen, die aus Algenblüten gewonnen werden. Diese helfen, aquatische Ökosysteme wiederherzustellen und verhindern Methanfreisetzung. Fürs Profil und den Pannenschutz wird recyceltes Para-Aramid verwendet, das aus alten Schutzwesten stammt. Zudem kommt „Post-Consumer-Recyclat“ (PCR) aus lokalen Abfallströmen zum Einsatz, das besonders CO2-arm ist. Die Karkasse besteht aus recycelten Fischernetzen, was die Emissionen um 49 % und den Energieverbrauch um 15 % senken soll. Klingt das nach Revolution? Wir würden sagen: durchaus!
Der Weg zur CO2-Neutralität
Friedemann Ohse, Leiter des Carbon-Neutral Tyre Projekts bei reTyre, erklärt den umfangreichen Prozess: „Der CO2-Fußabdruck dieses Reifens basiert auf unserer verifizierten Lebenszyklusanalyse, einschließlich des End-of-Life, so wie bei allen unseren Produkten. Unsere Produktions- und Transportprozesse sind so optimiert, dass sie nahezu emissionsfrei sind. Das Ende der Lebensdauer wird durch das Recycling der Reifen auf nahezu Null reduziert. Die im Reifen verwendeten Algen haben ein negatives CO2-Äquivalent und gleichen die verbleibenden Emissionen aus, so dass eine Netto-Null-Bilanz erreicht wird. Auf diese Weise haben wir ein kohlenstoffneutrales Produkt, ohne dabei eine der bekannten Abkürzungen wie Kohlenstoffquoten, Subventionen oder andere nicht produktbezogene Beiträge zu verwenden.“
Globale Zusammenarbeit und verantwortungsvolle Beschaffung
reTyre arbeitet eng mit weltweiten Lieferanten zusammen, um die Materialien nachhaltig zu beschaffen. Unterstützt durch das UN Ecosystem Restoration Programme, werden Algen aus Seen und Ozeanen geerntet. Dies trägt nicht nur zur CO2-Reduktion bei, sondern fördert auch die Gesundheit der Ökosysteme.
Vollständig nachhaltige Reifen
Zusätzlich zum revolutionären CO2-neutralen Reifen wird reTyre auf der Eurobike auch die neue City Range vorstellen. Diese Reifen für den urbanen Gebrauch bieten biobasierte und nachhaltige Materialien, wie pflanzenbasierte, wiederverwendbare Elastomere. Neue Profile sorgen für verbesserte Leistung und Grip, während die volle Leistung ohne Qualitätskompromisse gewährleistet wird. Der CO2-Fußabdruck wird über den gesamten Lebenszyklus minimiert, und alle reTyre-Reifen sind so konzipiert, dass sie zu 100 % wiederverwendbar sind.
Fazit
reTyre setzt laut eigener Angabe mit seinem CO2-neutralen Reifen neue Maßstäbe für nachhaltige Fahrradreifen. Für uns klingt das ziemlich vielversprechend – und doch sind wir wie immer etwas skeptisch. Darum haben wir uns mit Friedemann Ohse von reTyre kurzgeschlossen und ihn noch ein bisschen ausgequetscht. Hier folgt unser Interview mit ihm.
Interview mit Friedemann Ohse, Leiter des Carbon-Neutral Tyre Projekts bei reTyre
lifeCYCLE: Hi Friedemann. Stell dich doch bitte mal kurz vor. Wer bist du, wo kommst du her, was machst du bei Retyre?
Friedemann: Ich bin Friedemann Ohse, Designer bei reTyre und war aktuell Projektleiter für den weltweit ersten CO2-neutralen Reifen. Ursprünglich aus Norddeutschland, lebe und arbeite ich seit 2021 in Norwegen, direkt um die Ecke bei reTyre.
lifeCYCLE: Erzähle doch bitte kurz etwas über das Produkt, mit dem retyre weltweit bekannt wurde – ein Reifensystem mit per Reißverschluss austauschbaren Laufflächen.
Friedemann: reTyre ist tatsächlich schon älter und mit erfolgreichen Produkten in über 30 Ländern vertreten. Wir haben Preise gewonnen, wie den Red-Dot-Design Award und Tests bestanden wie den ADAC Test für Fahrrad-Winterreifen. Das erfolgreichste Produkt ist unser modulares Reifensystem, bei dem man einen Basisreifen hat für die Straße und auf dem dann eine Lauffläche angebracht werden kann, je nach Gelände oder Jahreszeit. Sowohl am Basisreifen als auch am sogenannten Skin sind hochwertige Reißverschlüsse angebracht. Obwohl viele Menschen erst skeptisch sind, haben wir tausende Fans und vor allem bei uns im Norden ist der Reifenwechsel auf Winterreifen mit Spikes sehr beliebt. Hier sieht man unseren blauen Reflektionsstreifen doch recht häufig.
lifeCYCLE: Nachhaltigkeit stand bei der Entwicklung dieser Reifen bereits stark im Fokus, richtig? Kannst du kurz die wichtigsten Fakten hierzu erläutern?
Friedemann: Man spart sich eben viele verschiedene Reifen-Sets und Wechsel. Mit dem Skin ist es circa 40 % Materialeinsparung. Der wichtigste Faktor ist allerdings, dass Menschen das Fahrrad in der matschigen Nebensaison oder im Winter deutlich häufiger nutzen (anstelle eines Verbrenners). Wir selbst schaffen den Reifenwechsel mittlerweile in unter einer Minute.
lifeCYCLE: Wer steckt hinter Retyre? Seit wann gibt es die Firma? Wo kommt Retyre her? Was ist die Mission?
Friedemann: Die Firma wurde in Trondheim von einer Gruppe findiger Ingenieure gegründet, die auch heute noch die Firma leiten. Unser Erfinder und Geschäftsführer Paul Magne Amundsen ist dabei der visionäre Kopf. Ich habe ihn nie gefragt, ob er mit dem norwegischen Polarforscher Roald Amundsen verwandt ist, aber der Forschergeist und der Mut gehen in die gleiche Richtung. Auf dem Weg der modularen Fahrradreifen ist das Team auf die Idee gestoßen, wie man Reifen auf eine ganz andere Art und Weise herstellen könnte als bisher – vollautomatisiert, ohne Wasser(dampf), ohne Chemikalien und mit dem Einsatz von Maschinen, die es schon gibt, zum Beispiel aus dem Spritzguss.
Das ermöglicht im nächsten Schritt die Verwendung von völlig anderen Materialien, wie zum Beispiel bio-basierter Elastomere, die 100% wiederverwendbar sind. Reifen landen heutzutage leider zum Großteil auf der Deponie oder werden verbrannt bei der Zementherstellung. Das geht besser! Insofern sind wir von 2021 zu 2022 mit den nachhaltigen Reifen gestartet und die Reißverschlüsse (leider) links liegen lassen. Wir haben bereits Kunden in allen Fahrzeugsegmenten, wie zum Beispiel Fahrradanhänger, Fahrräder für Kinder und für Erwachsene, sogar Schubkarrenräder sind dabei. Sollte alles weiter so gut funktionieren, suchen wir Partner aus der Autoindustrie. Unsere Ambitionen sind also wirklich beachtlich, aber das braucht es auch, wenn man auf dieser Erde noch länger bleiben will als die Dinos.
lifeCYCLE: Hast du ein paar persönliche Eindrücke von der Firma für uns? Du bist ja nach Norwegen ausgewandert und quasi durch Zufall zu Retyre gekommen. Da gibt es bestimmt ein paar Unterschiede zu Deutschland, oder?
Friedemann: Ja genau, ich kam nach Norwegen, weil meine Frau eine Arbeit gefunden hat und ich sie bei ihrer Karriere unterstützen wollte. Außerdem ist es eine Erfahrung und ein Abenteuer. Wenn man einmal so eine Chance hat, sollte man nicht nein sagen. Ich habe mich umgeschaut und fand eine Stellenausschreibung im gleichen Ort, die sehr spannend klang. Zu der Zeit wusste ich auch noch gar nichts von den weltverändernden Plänen der Firma.
Ich war in Deutschland nie fest angestellt, sondern etwa 14 Jahre selbständig. Insofern kann ich nicht so gut vergleichen. Allerdings habe ich kaum einen Unterschied beim Wechsel von selbständig zur jetzigen Anstellung gespürt.
Es ist vor allem das familiäre Gefühl und der Respekt vor dem Privatleben, was ich sehr schätze. Was ich auch gut finde, ist die unbeschwerte Herangehensweise an Aufgaben. Auf der anderen Seite sollten wir uns in Deutschland nicht so sehr selbst im Weg stehen und endlich loslegen. Deutschland hat Industrie, Technologie und junge Talente. Wir haben ein fantastisches Verständnis von Strategie und Prozessen, das müssen wir mehr nutzen und nicht so viel reden. Ich habe auch erkannt, dass Norweger oft effizienter sind als Deutsche, dafür sind wir extrem produktiv. Die Mischung beider Nationen ist also hervorragend – man sieht das bei gemeinsamen Projekten beider Länder, wie zum Beispiel in der Energiewirtschaft, bei Nachhaltigkeit oder im Softwarebereich. Wir sollten weiter aufeinander zugehen!
lifeCYCLE: Kommen wir mal langsam zu der großen Neuheit: Ein klimaneutraler, nachhaltiger Fahrradreifen…
Friedemann: Wie neuartig und zukunftsweisend unsere Technologie ist, sieht man vor allem an unserem klimaneutralen Reifen, den wir innerhalb von zwei Monaten entwickelt haben. Es ist ein Konzeptreifen mit Emissionen auf Netto-Null. Er besteht aus Algen, Abfällen (Post-Consumer Waste), altem Fischnetz und recycelten Fasern aus Schutzwesten. So etwas ist in keiner klassischen Reifenproduktion möglich. Für nachhaltige Produkte wird meistens irgendwo ein Baum gepflanzt oder das Licht im Heizungsraum wird mit Solarstrom betrieben.
Nicht dass das nicht gut ist, aber es hat am Ende überhaupt nichts mit dem Produkt zu tun. Wir haben stattdessen eine Firma beauftragt, uns bei einer Lebenszyklus-Analyse zu helfen, von Dritten verifiziert und mit dem gesamten Lebenszyklus von Materialien bis zum Lebensende in der Berechnung. Letzteres wird gern weggelassen und nur bis zum Verkauf gerechnet (Cradle-to-Gate). Laut der Analyse haben unsere Reifen aus der Massenproduktion bis zu 82% geringere Emissionswerte. Das ist mehr als ein guter Anfang.
lifeCYCLE: Wie gut können Reifen sein, die nicht „klassisch“ mit Gummi & Co hergestellt werden? Kann die Retyre Technologie qualitativ gegen altbewährtes Material „anstinken“?
Friedemann: Wir haben dazu unser eigenes Testzentrum aufgebaut und arbeiten mit bekannten Firmen, die sich auf Reifentests spezialisiert haben. Thermoplastische Elastomere haben beispielsweise super Eigenschaften und unsere erste Reifen-Generation ist schon langlebiger als die herkömmlichen Modelle. Das ist auch das Feedback unserer Kunden, die selbst unsere Reifen auf Herz und Nieren prüfen. Jetzt macht sich auch die langjährige Erfahrung bezahlt, die wir mit den Reißverschluss-Reifen gesammelt haben.
lifeCYCLE: Wie gut können herkömmliche Reifen aktuell recycelt werden und gibt es da perspektivisch noch viel Luft nach oben?
Friedemann: Die Menschheit hat ein Reifenproblem. Mikroplastik im Meer schließt auch Reifenabrieb ein, mit einem Anteil von bis zu 28 %. Aktuell lagern gut vier Milliarden Reifen weltweit auf Deponien. Es gibt also noch viel Luft nach oben. Das Recycling von herkömmlichen Reifen steht aktuell noch ganz am Anfang. Allerdings gibt es sowohl in der Fahrrad- als auch der Autoindustrie viele gute Vorstöße in letzter Zeit. Das sollte auch politisch weiter unterstützt werden!
lifeCYCLE: Worüber wir noch gar nicht geredet haben, sind Schläuche. Wie sieht es hier aus mit der Nachhaltigkeit?
Friedemann: Wir kümmern uns aktuell um Reifen. Schläuche sind verhältnismäßig einfach zu recyceln, weil das Material eben keine so komplexe Mischung ist. Wir stellen aktuell unsere neuen City-Bike-Reifen vor – die alle mit Pannenschutz kommen.
lifeCYCLE: Wo siehst du bzw. wo sieht reTyre sich in der Zukunft? Will man eine Alternative sein oder den Reifenmarkt revolutionieren?
Friedemann: Den Reifenmarkt revolutionieren.
lifeCYCLE: Das klingt nach einem Plan! Viel Erfolg dabei und vielen Dank für deine Zeit.