Solange wir uns beim lifeCYCLE Magazin schon mit Nachhaltigkeit beschäftigen (also von Anfang an), so lang fällt es uns immer wieder schwer am Ende zu einer Formel zu gelangen, die irgendwie eine klare Richtung gibt. Was ist nachhaltig und welches Konzept passt zu unserem (Fahrrad-) Leben? Mir selbst kam lange keine eindeutige Verhaltens-Richtschnur in den Sinn. Irgendeine kleine Messlatte, wie der „Satz des Pythagoras der Nachhaltigkeit“ oder – noch besser – Kants „kategorischer Imperativ für ein nachhaltiges Leben“, wonach ich mein Verhalten ausrichten kann. Die goldene Regel im Umgang mit anderen, der Natur aber auch wirtschaftlichen Interessen und allem anderen, was noch so ins Thema Nachhaltigkeit hinein spielt, könnte dann mit einem neuen Schlagwort klarer verdeutlicht werden.
Minimalismus in der Fahrradgarage?
Minimalismus heißt der Trend, der natürlich schon lange im Mainstream angekommen ist und bei dem es einfach gesagt um das Credo „Weniger ist Mehr“ geht. Nicht nur Selbstoptimierer, Influencer und Marketingabteilungen springen auf diesen hippen Zug auf, auch die Fahrradindustrie macht es – wahrscheinlich sogar, ohne es zu wollen. Gleichzeitig mit dem Aufkommen von Blogbeiträgen, YouTube-Videos und Zeitschriften rund um das Thema Minimalismus kamen nämlich auch Gravelbikes auf. Und was haben uns die Gravelbikes versprochen? Alles! Abenteuer, Fahrspaß, Natur und natürlich die Freiheit einfach immer abbiegen zu können. Und das alles mit nur einem Fahrrad.
Galt für mich bisher die N+1 Regel (sie gibt die richtige Anzahl an Fahrrädern für den persönlichen Gebrauch an, wobei N die aktuelle Anzahl im eigenen Besitz definiert), sollte die Gleichung ab sofort auf N=1 umgestellt werden.
Martin Staffa
Auch ich war entfesselt. Hingerissen von dem Geschmack nach Unabhängigkeit. Galt für mich bisher die N+1 Regel (sie gibt die richtige Anzahl an Fahrrädern für den persönlichen Gebrauch an, wobei N die aktuelle Anzahl im eigenen Besitz definiert), sollte die Gleichung ab sofort auf N=1 umgestellt werden. Ein Bike für alles, ja, das klingt nicht nur nach weniger (Wartung, Platzproblemen, Besitz), sondern nach viel mehr (Zeit, Spaß, Geld). Irgendwie klingt es also gar nicht nach Verzicht, sondern nach Vernunft.
Ich sah schon den aufgeräumten Keller vor mir. Darin nicht wie bisher dieses Chaos: natürlich zu wenig Fahrräder, aber zu viele Klamotten und überall diese Ersatzteile. Stattdessen träumte ich von purer Nüchternheit. Ein Gravelbike – daneben nur noch Luft zum Atmen. Also noch einmal investieren, um dann am Ende glücklich zu sein und nicht mehr neidisch auf die Räder der anderen schauen zu müssen? Denn manchmal fühlte ich mich wirklich wie eine Maus im Laufrad. Fahrräder kaufen, Fahrräder verkaufen, neue Teile anbauen, alte Teile aufheben (braucht man sicher nochmal irgendwann), Geld verdienen, um das alles zu bezahlen.
Entrümpeln für die pure Freiheit
Schon war mein Ideal des Fahrrad-Minimalisten geboren. Konkret wollte ich Verzicht üben, natürlich erst, nachdem ich in die volle Packung Gravelbike investiert hatte. Wie sich herausstellt, ist an die volle Packung Gravelbike aber doch gar nicht so kostengünstig heranzukommen. Neues Bike, ein zweites Paar Laufräder fürs Grobe Gelände, Mountainbike-Pedale und -schuhe, Tubeless-Set und so weiter. Dabei ist noch nicht mal die Bikepacking-Ausrüstung erwähnt, die ich für die volle Breitseite Freiheit natürlich auch noch brauchte.
Das war also der Umgang mit dem Neuen: erstmal haben. Und wie regel ich den Umgang mit dem Alten? Der Minimalist in mir wollte gleich den großen Müllcontainer auf den Hof stellen und radikal alles reinschmeißen. Der Sparfuchs in mir war da aber anderer Meinung. Nach dem Vorbild von Marie Kondo (Immerhin die Aufräumexpertin schlechthin mit mehreren Bestsellern und einer global gefeierten TV-Show zu diesem Thema) nahm ich jeden Gegenstand in die Hand und prüfte. Ich ging tief in mich und prüfte meine Gefühle zu dem ganzen Kram, der sich so im Keller angesammelt hatte. Gar nicht so leicht. Wie sollte ich meine Gefühle zum dritten Schnellspanner für vorne oder der alten ausgeleierten BIB-Shorts genauer definieren können? Und was ist mit meiner Fahrradmützen-Sammlung? Muss die jetzt weg? Der „Jain“-Stapel war am Ende des Tages mit Abstand der größte. Immerhin hatte ich mal ausgemistet.
Gut, dass ich den großen Container nicht bestellt hatte, denn zum Schluss war es eher eine halbe Mülltonne voll mit Zeug. Zeug, das ich (hoffentlich) nicht vermissen werde. Immerhin hatte ich mich bei den Fahrrädern wirklich auf mein neues Gravelbike reduziert. Also abgesehen von dem Lasten-, Alltags und Kneipenrad. Ich dachte, das würde jetzt so bleiben.
Die Kapitulation vor dem Kapitalismus
Als ich mir vor wenigen Tagen ein Mountainbike bestellte (ein All-Mountain-Fully), gestand ich mir damit ein, dass ich aufgebe. Ich bin kein Fahrrad-Minimalist mehr. War ich ehrlich gesagt ja auch vorher nicht. Nach einigen rütteligen Fahrten im Gelände musste ich nämlich feststellen: Ein Gravelbike ist kein Mountainbike. Auch, wenn man lange versuchen kann, sich das einzureden. Irgendwie hat schon jedes Fahrrad seine Berechtigung. Aber unser Keller wird auch nicht größer, daher habe ich für mich festgelegt: „N“ ändert sich im Verlauf des Lebens nach Einkommen, verfügbarer Zeit und Vorliebe. Lael Wilcox hatte mir mal im Gespräch verraten, dass man mit zwei Fahrrädern (im sportlichen Kontext) eigentlich alle Bedürfnisse abdecken kann, nämlich mit einem Gravelbike und einem Fully. Ich denke, da halte ich mich jetzt dran, wirklich, erstmal.
„Eine einzige Regel zu haben, auf welche hin sich alle Kaufentscheidungen prüfen lassen – ich muss sagen, das ist schon ziemlich minimalistisch.“
Martin Staffa
Was ist von meinem minimalistischen Ich geblieben? Genau eine Regel, aber eine, die ich für wirklich ultimativ anwendbar halte und welche mit meiner offenkundigen Leidenschaft für Fahrräder in keiner Weise kollidiert. Außerdem unterscheidet sie ein „wirkliches“ Bedürfnis von einem kurzen Flirt mit dem kapitalistischen Verlangen. Noch dazu hilft sie auch in Sachen Nachhaltigkeit weiter: Immer, wenn mich wieder der Kaufrausch durchtreibt, dann friere ich das scheinbar sehnsüchtige Bedürfnis einfach ein, und zwar für genau einen Monat. Wenn ich es bis dahin nicht mit vorhandenen Materialien stillen konnte, dann kaufe ich es – dann aber mit dem Fokus auf Qualität und Langlebigkeit. Wenn es vielleicht aber gar kein Verlangen mehr gibt, lasse ich es bleiben.
Eine einzige Regel zu haben, auf welche hin sich alle Kaufentscheidungen prüfen lassen – ich muss sagen, das ist schon ziemlich minimalistisch.