Der Granfondo Stelvio Santini zelebriert das Erklimmen des Passes ein ganzes Wochenende lang. Alle sind total begeistert, die Alpen glühen schon am Vorabend im Sonnenuntergang und irgendwie wirkt alles so friedlich. So schlimm kann das doch nicht werden. Gut, es geht auf 2.757 Meter gut. Okay, es sind insgesamt 4.000 Höhenmeter zu schaffen. Ja… wir fahren nicht nur den Stelvio hoch, sondern nehmen noch den Mortirolo mit. Zumindest die tun das, die sich für die lange Runde gemeldet hatten. Und welche, außer diese, käme für mich infrage? Gut gelaunt und mit der Vorfreude auf eine kleine Rennradtour stehe ich also am Start.
Auf gehts: Start in Bormio
Los geht’s. 35 Kilometer geht es astrein bergab! Wow. Es ist sehr schön, ein bisschen kalt, vor allen Dingen wächst, während tausende von dünnen Reifen so schön vor sich hin surren, irgendwann die Gewissheit: So kann es nicht immer weitergehen. Allein die Höhenmeter, die wir hier gerade platt machen, würden daheim schon für ein amtliches Bergtraining reichen. Also kommt es, wie es kommen muss. Irgendwann ist der Spaß vorbei und es geht wieder hoch. Ganz unscheinbar zunächst hinauf nach Teglio. 400 Höhenmeter zum Aufwärmen. Oben der erste Verpflegungsstopp gefolgt von einer wahnsinnig schönen Abfahrt mit wunderbarem Morgenlicht. Trotz Berg habe ich einen Schnitt von mehr als 30 km/h. Je weiter ich fahre, desto niedriger schrumpft die Zahl auf meinem Tacho…
Bei rund Kilometer 80 der zweite Zwischenstopp. Bis hierher war es ein lockeres Auf und Ab, fast zum Genießen. Wäre da nicht dieses doofe Gefühl in der rechten Wade. Ich habe keine wirklichen Erfahrungen mit Krämpfen, aber es fühlt sich an, als wenn sich da was anbahnt. Die Frage ist nur: Warum? Ich fühle mich eigentlich gut. Und bisher habe ich nichts Unmenschliches vollbracht. Irgendwann fällt mir ein interessanter Zusammenhang auf: Im Wiegetritt ist alles gut. Im Sitzen zwickts im Muskel. Meine Theorie: Ich habe die vor der Abreise noch schnell gewechselten SPD-Cleats nicht ordentlich montiert und nun möchte mich meine Wade darauf aufmerksam machen. Merke: Material Updates wollen vor dem großen Tag getestet werden!
Der Mortirolo
Rechts knickt die Straße ab zum Mortirolo. Es ist durchaus möglich, dass ich von diesem Bergpass schonmal etwas gehört habe. Aber was es auch gewesen ist, ich habe es sofort wieder verdrängt. Das wird mir nie wieder passieren. Zumindest diese drei Zahlen werden mir im Gedächtnis bleiben: elf Kilometer, 1.200 Höhenmeter, bis zu 23 Prozent Steigung. Gut für mich: Der Pass ist meist so steil, dass ich eh aufstehen muss. Die Wade dankt es. Ich hingegen bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Spätestens die letzten beiden Kilometer werden zur echten Challenge: Schaffst du es ohne abzusteigen?
Das Schlimme ist: Nach dieser Tortur stehen 2.000 Höhenmeter auf dem Tacho. Das bedeutet nichts anderes, als eine äußerst ungerechte Verteilung: Die zweite Hälfte des Anstieges erfolgt auf dem letzten Drittel der Route. Das nenne ich mal Progression. Als würde das nicht reichen, führt die Strecke auch noch direkt durch Bormio, direkt an meinem Hotel vorbei. Zynismus pur. Wer hat sich das ausgedacht? Auf der anderen Straßenseite kommen mir die Fahrer entgegen, die es schon geschafft haben. Okay, bestimmt sind die nur die kürzeren Runden gefahren. Das macht es jedoch nicht besser: Während ich leide, haben sie es schon geschafft. Neid pur. Immerhin ist es wunderschön hier. Ohne Autos den Pass hochzukurbeln ist ein einmaliges Erlebnis. Die ersten Kehren, die Gallerien in der Mitte und dann auf einmal diese Wand, die jeder von den vielen Fotos her kennt. Diese unglaublich vielen Kehren, die sich langsam den Berg hinauf schrauben. Ich bin ganz unten und blicke ehrfürchtig hinauf.
Aller guten Dinge sind drei: Der Stelvio
Der Stelvio ist vor allem eines: verdammt lang! Der Mortirolo war kurz und schmerzvoll. Dieser Anstieg hier ist vergleichsweise einfach. Aufgrund der „kleinen Vorbelastung“ und der Tatsache, dass er richtig lang ist, ist es aber trotzdem schlimm. Dazu kommt die Höhe: Ab 2.000 Metern merke ich deutlich, dass irgendwas anders ist. Die Pumpe pumpt wie bekloppt, aber es geht nicht mehr voran. Das Hirn stellt ebenfalls auf Sparmodus und spult eine einfache Schleife ab: Will oben ankommen, will oben ankommen, will oben ankommen…
Ich komme aber nicht oben an. Nach jeder Kurve tut sich ein neues Monster auf. Mal etwas steiler, mal etwas flacher. Immer bergauf. Und plötzlich: in weiß! Hier liegt tatsächlich Schnee und das nicht zu knapp. Und da oben dieses Haus, es ist doch nicht etwa…? Nein, ist es nicht. Aber dahinter das Haus, noch viel höher und von hier aus betrachtet noch viel kleiner, das muss es sein: das Ziel! Noch sechs Kilometer. Gefühlt 100.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter zu treten. Ich kann ja schlecht stehen bleiben. Ein Blick in die Augen so manchen Mitstreiters verrät mir: Denen geht es nicht besser. Ein paar der anderen Gesellen geht es sogar noch viel schlechter. Einige Schieben gar. Ich beiße die Zähne zusammen und trete weiter. Eigentlich geht es mir doch gut. Es ist anstrengend. Aber ich habe noch keinen Krampf gehabt. Und ich muss gleich auch nicht irgendwo im Schnee mein Zelt aufbauen, sondern rolle noch ein bisschen den Berg runter, bekomme dann eine warme Dusche, was zu essen und ein Bett. Also bitte, Jammern ist völlig fehl am Platz.
Noch zwei Kilometer. Noch ein Kilometer! Ich höre schon die Ansagen vom Ziel. Noch 500 Meter. Dann überquere ich die Ziellinie. Halleluja! Der kleine Touristen-Rummelplatz hier oben nimmt mich warmherzig in Empfang. Die Sonne scheint, ich bekomme mein Finisher-Cap und um mich herum sehe ich nur strahlende Gesichter. Von Radfahrern und Radfahrerinnen, die allesamt gerade aus völlig eigener Kraft einen der härtesten Alpenpässe überhaupt hinauf gefahren sind. Übrigens: Heute ist der World Bicycle Day! Ich würde sagen: Egal wie schwer die Beine sind – alles richtig gemacht!
Hier noch ein kleines Video mit ein paar Schnipseln, die meistens unter Abwesenheit von Sauerstoff entstanden sind. Vielleicht reicht es ja für die goldene Himbeere 😉